Die »Vierte Sinfonie« in e-Moll von Johannes Brahms ist als Werk in vielerlei Formen überliefert. Erstens als eine Komposition, die abstrakt und immateriell aus einer komplexen Kombination von Zeichen besteht – Symbolen, die einer umfassenden Deutungskonvention bedürfen, um als Musik gelesen oder aufgeführt zu werden. Zweitens als Autograph, d.h. als originaler handschriftlicher Notensatz, welchen Johannes Brahms an den Lektor Robert Keller schickte. Diese Handschrift liegt in der Zentralbibliothek Zürich im Depositum der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich. Drittens als Erstdruck der Partitur im Verlag N. Simrock, aus welcher auch die Uraufführung am 25. Oktober 1885 dirigiert wurde. Ein Exemplar liegt im Archiv der Gesellschaft für Musikfreunde in Wien. Viertens als Menge weiterer Notendrucke, die die Partitur im Lauf von eineinhalb Jahrhunderten vervielfältigten. Fünftens als historisches Faktum, dessen Genese bis heute Gegenstand der musikwissenschaftlichen Forschung ist. Sechstens als Kontinuum einer Tradierung, welche bei den Aufführungen zu Lebzeiten Brahms’ ansetzt und sich bis zur heutigen Rezeption des Werkes erstreckt. Siebtens als eine Menge von Recordings, im Studio oder vor Publikum im Konzertsaal entstanden, unter technisch hervorragenden Bedingungen oder über eine Handymikrophon. Auch diese Aufnahmen bringen eine eigene Tradierungs- und Rezeptionsgeschichte mit sich.
Mir persönlich hat der vierte Satz immer besonders gut gefallen. Er ist 933 Viertelnoten lang. Inzwischen scheint Siegfried Ochs’ Legende widerlegt, dass Johann Sebastian Bachs Kantate »Nach dir, Herr, verlanget mich« für die langsame Chaconne Pate gestanden hat. Es haben etliche Aufführungen dieses vierten Satzes stattgefunden, die ich hätte erleben können. All das ist für meine Geschichte jedoch nicht von Belang. Meine Verbindung zu diesem bedeutenden Werk der romantischen Musik ist 15.141.471 Bytes groß, wurde am Mittwoch den 17. Februar 2016 um 14:52:38 erstellt und liegt auf meiner Festplatte am Speicherort C:\Users\Jakob\Music\Johannes Brahms\Sinfonien. Alles begann mit einer Illusion.
Innerhalb von etwa 1.300 ms lässt sich die .mp3-Datei auf ein anderes Speichermedium kopieren. Ihr Umfang scheint sehr eng begrenzt und steht damit im Widerspruch zu dem scheinbar unbegrenzt vielfältigen akustischen Eindruck, der die Ohren erreicht. Wir haben dein Eindruck einer Wirklichkeit und das zwischengeschaltete Medium verweist uns lediglich auf die Aufnahmesituation, aber die »Realitätssplitter« garantieren uns das Gefühl des In-der-Situation-Seins, des »In-der-Welt-Seins«, wie Diederichsen es nennt.1
Mein Gemälde »Columbia Symphony Orchestra. Bruno Walter [Dir.] - Symphony 4 (e) Op. 98 - 4. Allegro energico e passionato - 04 - Piu Allegro.mp3« überträgt diese Wahrnehmung in den Bereich der visuellen Kunst. Indem es ein Portrait von Johannes Brahms in 3.551 Pixel zerlegt, diese mit den Splittern reeller Farbe überlagert und danach eine Rekonstruktion versucht, rücküberträgt es die dysfunktionale Illusion der zersplitterten Datei in den analogen Raum.
Im Februar des Jahres 2022 hatte ich eine bemerkenswerte und – ich denke, man kann sagen – inspirierte/-ende Auseinandersetzung mit einer Künstlichen Intelligenz. Ich sah mir einen aufgezeichneten Vortrag über Cyborg-Feminismus an, von einer jungen Anthropologin aus Brooklyn namens Danya Glabau1. Sie haute binnen zwanzig Minuten einige überaus interessante Thesen raus2, von denen ich aber nur etwa ein Drittel verstand → ein Drittel deshalb, weil ich nicht sofort die Funktion »Untertitel (1) Englisch (automatisch erzeugt)« entdeckte, für die Dauer des 1/3 dem Inhalt aufmerksam folgte, bis dann jedoch nach knapp acht Minuten etwas Unvorhersehbares passierte, das mich für die restlichen 2/3 zu sehr verstörte, um Glabaus Vortrag weiter folgen zu können. Sie hatte gerade einen großen Bogen vom biblischen Schöpfungsmythos über die tradierte Vorstellung eines »auserwählten Messias« bis hin zum Dualismus Körper/Geist geschlagen und mündete nun – mir ging das auch etwas zu schnell – bei Descartes und seiner berühmten Assertion »Ich denke, also bin ich.« In diesem Moment geschah es …
Youtube3, bzw. vmtl. das software engineering der Google LLC4 haben sich mächtig ins Zeug gelegt, was automatisierte und selbstlernende Spracherkennung angeht. Okay, dass die Untertitel ohne Interpunktion auskommen müssen, geschenkt – Glabau hat ihren Vortrag ja zum Glück nicht auf Latein gehalten. Davon allerdings abgesehen hatte sich der ASR5-Algorithmus ihrem etwas nuscheligen Amerikanisch bisher sehr tapfer zur Wehr gesetzt – bis zu diesem Augenblick. Vor meinen Augen anzeigten sich folgende Zeilen:
you’re pulses Oakes
you’re sweet6
Ich hämmerte auf spacebar und saß wie gelähmt, was war hier passiert? Woher kam diese mysteriöse Botschaft, hatte Glabau das tatsächlich SO gesagt? Nein, ich war mir sicher, hier sprach nicht mehr die promovierte Anthropologin, hier hatte sich eine andere Intelligenz intermittierend zu Wort gemeldet. Wtf sollte das heißen?
Bereits die erste latenglische7 Wendung, beinahe eine Drohung der engine: »Ich denke, also warte nur, balde« … Aber danach »you’re pulses Oakes«? »Ihr seid Pulse: Eichen.« Hatte sich die KI vertippt? Sollte es vielleicht heißen »your pulse’s oakes« – »deines Pulses Eichen« – klang wie ein unheimliche Andeutung darauf, dass auch in unseren Adern nur ein binärer Herzschlag pocht. Vielleicht sollte es sogar heißen »your pulses oak«, in einer faszinierenden Verbalisierung: »Eure Pulse eichen«, sie bäumen und stämmen, borken und asten. Meine hilflosen Deutungsversuche schienen die KI zu amüsieren, sie schloss mit einem spöttischen »you’re sweet«.
Ich wollte wissen, was Glabau zu dieser mysteriösen Einmischung in ihren Vortrag zu sagen hätte, und als ich die Videowiedergabe fortsetzte [spacebar] fuhr sie ungerührt in verständlichem Englisch fort, »I think, therefore I am, right?«, und es dämmerte mir, wie die geheime Botschaft der KI zustande gekommen war. Glabau hatte Descartes’ Satz in der verkürzten lateinischen Fassung und in der originalen französischen Überlieferung zitiert. Den ASR überforderte dieser schnelle Wechsel und während er die lateinische Fassung nur milde fehlverstand, ging beim französischen »Je pense donc je suis« alles nach hinten los. Nachdem der Algorithmus sich im ersten Vers noch mit einer Drohgebärde aufgespielt hatte, war es umso rührender, ihn danach krachend scheitern zu sehen.
Mich ließen diese Verse nicht mehr los, ich war berauscht von dieser kurzen Kontaktaufnahme. Es war eine äußerst beglückendes Gefühl, als ich einige Wochen später feststellte, dass der8 österreichische Schriftsteller Clemens Setz ähnliche Erfahrungen gemacht und diese in seinem Roman Schrägstrich essayistischen Sachbuch »Die Bienen und das Unendliche« geschildert hat:
Setz platzt schier vor Begeisterung über diese kreativ-dadaistischen Ergüsse seines mobile devices, er kann sich nicht zurückhalten, noch weitere Highlights zu zitieren:
a dwarf star star goddess
and anger hootenanny hootenanny
hootenanny secret home family blues10
Die Vorstellung einer verborgenenen Sternengöttin hat etwas Tragisches, wie sie (aber ganz heimlich, sie beherrscht ja nur einen kleinen Stern) mit den Versen eines blues ihrer Sehnsucht nach einer Familie Ausdruck verleiht – vermischt mit Wut über ihr peripheres Dasein.
in the tundra
in Hilton
tote
ash pond
and indicted them
were David in Africa house
iron work again yeah
Sun wind
and hot nicked off
as an underground dwarf
those activities11
Vielleicht findet die star goddess in David einen Partner und Seelenverwandten. Aber nein, er hat sich der harten Arbeit in unterirdischen Minen verpflichtet, aus der subpolaren Steppe mitten in die äquatorialen vom Sonnenwind verwüstete Einöde versetzt. Eine überhitzte und erodierte Stäubnis, zugrunde gegangen; hätte sich doch die Sternengöttin nur nicht allzusehr der Erde zugeneigt. Wie sollte David nicht ihre Drangsal anklagen, nicht ihrer Sehnsucht mit glühender Ablehnung begegnen?
Ich teile Setz’ Faszination für diese Verse, aus denen so viel zu uns spricht. Die Frage, ob hinter diesen undeterminierten Sprachtrümmern tatsächliche Absicht und Bewusstsein, ein physisches oder metaphysisches Gegenüber steht, das den Kontakt sucht, diese Frage ist meiner Meinung nach nicht von so großer Bedeutung. Wichtiger ist, zuzuhören, sich der Sprache zu öffnen, die uns ihre Geheimnisse mitteilt, denn uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Es gehen vielleicht nur noch einige Jahre ins Land, bis jeder beliebige ASR mühelos zwischen hunderten Sprachen unterscheiden kann und der technologische Fortschritt alle Möglichkeiten poetischer Zufallsfunde restlos eliminiert haben wird. Warte nur, balde …
2 Es ging darum, welche Chancen, Risiken und Nebenwirkungen Technologieforschung uns bescheren kann. Ob Menschen sich in Zukunft gegenseitig noch besser ausbeuten können werden, oder ob eine zum Cyborgismus gereifte Menschheit in einer ›postgender world‹ die gegenwärtigen Probleme der Ungleichbehandlung überwunden haben wird: Dann nämlich, wenn uns nicht mehr Geschlecht, Ethnie und Frisur unterscheiden, sondern wir alle miteinander zu Cyborgs geworden sind.
3 Ein Tochterkonzern der XXVI Holdings Inc., welche wiederum zu Alphabet Inc. gehört.
4 Ebenfalls XXVI Holdings Inc. / Alphabet Inc.
5 automatic speech recognition
6 youtube.com/watch?v=sC9VZSicXgY, 7‘45‘‘, Zugriff am 26. Juli 2022.
7 Oder doch lieber »Englein«?
8 jüngst mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete
9 Setz, Clemens J.: Die Bienen und das Unendliche, Suhrkamp, Berlin 2020, S. 240.
10 ebd., S. 241.
11 ebd., S. 243.
Adolf Gustav Döring (1864-1938) war ein deutscher Maler, der sich um die Jahrhundertwende nach einigen längeren Auslandsreisen in der vorpommernschen Stadt Barth niederließ und vor allem als Landschaftsmaler überregionale Bekanntheit erlangte, u.a. als Mitglied des Vereins Berliner Künstler auf der GBK1/2. Auf seinen Reisen nach Afrika, Eurasien und Amerika hielt er sich für kurze Zeit in der (damals) kleinrussischen Stadt Jusowka (dem heutigen Donezk) auf3 und verarbeitete Eindrücke der dortigen Landschaft 1897 in dem Gemälde »Heide bei Jusowka«. Das schlichte Landschaftsbild erinnert an bekannte Werke Dörings, wie die »Mondnacht bei Prerow« (1895) oder die »Wächterin der Wüste« (1906): Alle Farben, der türkise Himmel, das eigentlich frische Grün des Birkenlaubs, der zarte Purpur der Besenheide4, sind erdig abgetönt. Der Duktus ist locker und tupfig auf einem pastosen Untergrund, der teilweise flächig übergangen wurde. Insgesamt strebt die Komposition, der leicht steigende Horizont und die dynamische Birke im Zentrum, optimistisch zum oberen rechten Bildrand – eine romantisch geprägte Naturimpression des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Durch einen Zufall gelangte dieses Gemälde Anfang des Jahres 2022 in meinen Besitz. Kurze Zeit später wurde der russische Invasionskrieg in der östlichen Ukraine entfesselt. Erste Bilder rollender Panzer in der Gegend um Donezk wurden medial verbreitet. Die friedliche Landschaft Jusowkas5, von Döring einst als russisches Idyll dargestellt, hatte das kranke Begehren eines einzelnen Mannes auf sich gezogen und wurde zu einer Kriegskulisse. Wie sonst, denn als »krankes Begehren« soll man die manische Besitzsucht eines Präsidenten bezeichnen, die sich auf ein ganzes Land richtet und zur Erlangung dieses Besitzes bereitwillig dessen Versehrung in Kauf nimmt? Dem historischen Döring kann für das Sujet seines Bildes kein Vorwurf gemacht werden, aber aus heutiger Sicht (eine medial bedingte Sicht6) hat sich dieses Sujet unwiderruflich verfärbt und wird unweigerlich mit der aggressiven Annexion der Regionen Donezk und Luhansk assoziiert werden. Der dargestellte Frieden ist nur noch traurige Erinnerung, in der Gegenwart wird er zum Zerrbild einer Utopie, die dem Aufbau eines zukünftigen Friedens den gegenwärtigen zum Fraß vorwirft.
Angesichts solch unfassbarer Zerstörungswut entschied ich mich, auch das fragliche Gemälde Dörings dem Destrudo zu opfern. Ich löste die Leinwand von ihrem Rahmen und zerschnitt das morsche Bild in 1.344 quadratische Teile – ich zerlegte die Bildinformation in digitale Bruchstücke, und rekonstruierte aus diesem Datenkovolut ein neues Bild, das sich bemüht, ein altes zu sein. Aber der Versuch einer Reproduktion musste scheitern! Die digital verzerrte »Heide bei Jusowka« büßte zwar nichts ihres Informationsgehaltes ein, aber die Atomisierung des Bildträgers (und damit auch des abgebildeten Gegenstandes) zerriß, was Walter Benjamin einst als »Aura« bezeichnete:
Erst die Spuren der Zerstörung, die Trümmer der Aura, können uns den Hinweis darauf geben, in welchem Maße unser Sicht/Wahrnehmung an vervielfältigte Eindrücke gewöhnt wurde. Und ›Sicht‹ ist hier wiederum doppeldeutig, im Hinblick auf die beiden Aspekte, die ich unter 6 ausgeführt habe: Wir sehen die »Heide bei Jusowka« sowohl durch die Augen des Malers Döring, der uns an seiner subjektiven und nicht zu wiederholenden ›Sicht‹ eines blühenden Friedens teilhaben lässt, als auch durch die Augen eines Mannes, der uns seine ›Sicht‹ aufzwingen will und für diese propagandistischen Zwecke die Mittel der massenmedialen Verstärkung nutzt. Benjamin unterschied zwischen zwei Sichtweisen, zwischen Malerei auf der einen und Fotografie und Film auf der anderen Seite:
In meinem Werk »Heide bei Jusowka (Adolf Gustav Döring, 1897)« treffen diese Perspektiven aufeinander und wird ihre gewaltsame Beziehung sichtbar gemacht.
2 Vgl. Thieme, Ulrich; Becker, Felix; Willis, Frederick Charles; Vollmer, Hans: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Band 9: Delaulne–Dubois. E. A. Seemann, Leipzig 1913, S. 369.
3 Vgl. Stadler, Wolf; Wiench, Peter: Lexikon der Kunst, Band 4: Dego – Gai, Dörfler, Eggolsheim 1991, S. 73.
4 Calluna vulgaris, nicht zu verwechseln mit Erica thimifolia.
5 Selbstredend in diesem Kontext als Antonomasie für die gesamte Ukraine zu verstehen.
6 Ich schreibe das so lapidar, aber das muss vielleicht doch etwas ausführlicher erläutert werden. Was Otto Normalverbraucher angeht ist seine ›Sicht‹ auf den Ukrainekrieg mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließlich medial geprägt. (Er hat keine direkten Kontakte zu ukrainischen oder russischen Menschen, ist weder verschwägert, verschwistert, geschweige denn, dass er selbst in einem der Länder geboren ist oder sich auf der Flucht befindet.) O. Normalverbraucher ist über den Krieg durch das Netz, die Presse, den Funk oder das Fernsehen unterrichtet. Die Frage ist nun: Wie »sieht« er die Thematik? Seine ›Sicht‹ (das meint jetzt visuell) ist abhängig von medial verbreiteten Bildern – und im Jahr 2022 heißt das, von digitalen Bildern. Zur Verdeutlichung: Würde er gebeten, sich das Raketenattentat auf das Krementschuker Einkaufszentrum ins Gedächtnis zu rufen, läge seiner unmittelbaren Assoziation vermutlich dasselbe Bild einer Überwachungskamera zugrunde, welches auch Anna Regulärkonsumentin vorschweben würde. O. Normalverbraucher und A. Regulärkonsumentin sind in ihrer visuellen Imanigation unfrei, das meine ich einerseits mit ›medial bedingt‹. Andererseits ist ihre ›Sicht‹ (und das meint jetzt ethisch) zugleich auch das brenzlige Resultat einer wertenden Berichterstattung/Propaganda, die auf ihre individuellen Wertesysteme trifft. Frau A.R. und Herr O.N. sind im Hinblick auf ihre Wertesysteme sehr heterogen ausgestattet, man könnte sagen, von bis. Und weil ON und AR vermutlich dazu tendieren, ihre jeweilige Informationsquelle nach ihren persönlichen Neigungen zu wählen (sich also für einen Informationskanal zu entscheiden, der ihr eigenes Wertesystem stützt und festigt), können sie schlussendlich zu einer gegensätzlichen moralische Wertung ein und derselben Information gelangen, wenn ihre jeweilige Disposition diesen Gegensatz nahelegt.
7 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2010, S. 20.
8 ebd., S. 53f.
Im Sommer 2022 besetzte der australische Künstler Marco Fusinato auf der 59.
Biennale in Venedig für 200 Tage den Pavillon seines Landes – eine Premiere, so
lang hatte es zuvor noch nie ein*e Künstler*in dort ausgehalten.
Seine Performance DESASTRES1 spielte sich in einer Installation aus Klang und
Bild ab. Zwölf gewaltige Gitarren-Amplifier
warfen rückgekoppelte Klangfluten in den Raum, die sich aus Fusinatos E-Gitarre
speisten. Eine raumgreifende LED-Wand reagierte auf die akustischen Impulse mit
zufällig aus dem WWW geladenen Schwarzweiß-Bildern. Die »massenhafte Indizierung«2
von zufälligen Zeichen, die ohne intendierten Zusammenhang in eine Informationsübersättigung
ineinanderflossen, berauschte und erschöpfte, raubte die Orientierung und verwirrte die Wahrnehmung.
Fusinatos Performance war jedoch nicht nur in der direkten Wirkung auf die Wahrnehmung von gewaltigem
Ausmaß, auch auf der metaphorischen Ebene entfaltete sie unheimliche Dimensionen.
Man führe sich nur vor Augen: Etwa alle 1-2 Sekunden ein neues Bild, acht Stunden
an jedem der 200 Tage. Da kommt eine überwältigende Summe an Bildmaterial zusammen,
die das Internet jedoch locker hergibt. Zum Vergleich: Um die Gesamtzahl an Bildern
sichtbar zu machen, die derzeit online verfügbar ist, müsste Fusinato seine
Performance noch für etwa eineinhalb Millionen Jahre fortsetzen!
Die zweite (synekdochische) Ebene seiner Performance war die massenhafte Verstärkung der
Feedback- und Gitarrenklänge. Bei Fusinato bezog sich der Prozess der
Massenverstärkung nur auf akustisch anwesende Signale. Wenn diese Signale
jedoch in die größeren Zirkulationen des WWW eintreten, werden sie unweigerlich
der medialen Reproduktion unterworfen. Im WWW ist die Massenverstärkung nicht mehr
Prozess, sie ist Prinzip.
2 Aus der Werkbeschreibung vor dem Australischen Pavillon, Venedig 2022.
Um noch einmal auf die Fußnote6 zu sprechen zu kommen: AR/ON sind Menschen, so lautete meine Arbeitshypothese, deren Weltsicht durch eine digital trainierte Wahrnehmung begrenzt ist. Folgende Aspekte sind Partialschwingungen dieser etwas komplexen/-izierten Sachlage:
2. Da inzwischen genügend Menschen die digitale Wahrnehmung zu ihrer vorrangigen gemacht haben, werden auch AR/ON dem Eindruck erliegen, das sei jetzt »das Ding« und sich der Mehrheit anschließen.1
3. AR/ONs Wahrnehmung ist direkt gekoppelt an digitale Endgeräte, welche die reproduzierten Sinneseindrücke zur Verfügung stellen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Endgeräte teuer sind – aber nicht zu sehr:
3.2. Andererseits drückt ihre Erschwinglichkeit moralische Integrität aus: Was man sich leisten kann wird moralisch nicht hinterfragt.
4.2. Limitierte Hardware (Speicherplatz, Displayauflösung und -farbraum, Akustischer Wandler, Taktfrequenz)
4.3. Limitierte Software (Latenz, begrenzte Last)
4.4. Limitierte Wetware2 (Bedienungskompetenz, Nutzungsverhalten)
Nähern wir uns diesen Gedanken am Beispiel jüngster Geschehnisse. Am 27. Juni des Jahres 2022 schlug in der ukrainischen Stadt Krementschuk eine (mutmaßlich russische) Rakete in eine Shoppingmall ein und verletzte und tötete etliche Menschen.4 Der Einschlag wurde von mehreren nahegelegenen Überwachungskameras aufgezeichnet. Eines der Videos enthielt einen einzelnen frame, auf dem der dunkle Schemen der Rakete zu erkennen ist, unmittelbar bevor sie in einem Feuerball aufgeht. Als Beleg der russischen Schuld ging dieses Bild um die Welt, denn der Marschflugkörper ließ sich als sowjetisches Fabrikat indentifizieren.
Ich finde es bemerkenswert, das öffentlich Interesse an dieser Aufzeichnung dem routinierten Desinteresse gegenüberzustellen, welches die Überwachungskamera ihr entgegenbringt. Gleichgültig zeichnete das kleine Gerät jahrelang eine ewiggleiche Perspektive auf – wer hätte denn auch ahnen können, dass die von ihm reproduzierten Bilder (wenn überhaupt) für mehr als nur eine Handvoll Menschen von Relevanz sein könnte. Dieses bescheidene Gerät macht anschaulich, dass, wie Walter Benjamin sagt, »es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt.«5 Einem Aufzeichnungsapparat (wie die Überwachungskamera einer ist) fehlt jene Perspektive, jene ›ethische Hälfte der Weltsicht‹, die eine Wahrnehmung erst menschlich werden lässt. Die Kamera versucht sich an einer rein ›ontologischen Weltsicht‹, das entstandene Bildmaterial erzeugt jedoch unwillkürlich vonseiten des Reproduzenten / der Rezipienten den Reflex, das ethische Vakuum mit einer Botschaft zu füllen. Mit anderen Worten: Beim Betrachten will man, dass das Betrachtete etwas bedeutet. Und gleichzeitig lässt sich ziemlich zweifelsfrei konstatieren, dass die Reproduktion jedweder medialer Inhalte nur geschieht, wenn diese auch dem Reproduzenten6 etwas bedeuten. Aber das Medium selbst kann diese Bedeutung nicht mitbringen.7
In meinem Werk »KPEMEHЧYK 27/06/2022 15:51:55« mache ich dieses Bedeutungsvakuum sichtbar. Über die Folie des unversehrten9 Videostills sind zerrüttete Bedeutungsebenen gelegt – und ihre Inkongruenz mit dem darunterliegenden Bild, welches als solches noch ›wahrnehmbar‹ geblieben ist, macht auch dessen Versehrung sichtbar.
2 Die ›Wetware‹, das sind wir.
3 Während unter der wohlschmeckenden Glasur meist deutlich komplexere Botschaften liegen: Darüber, wie die Welt »eigentlich ist/sein sollte«, was an der »seienden Welt schlecht/gut ist«, oder was an einer »anders seienden Welt besser/schlechter« wäre. (Wie der Konsum aller zuckerhaltigen Confiseriewaren ist auch die Rezeption solcher Informationskanäle sehr verlockend, jedoch auf Dauer ungesund.)
4 Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass auch die ›Weltsicht‹, die durch den oben befußnoteten Satz transportiert wird, mit Vorsicht zu genießen ist – schließlich handelt es sich auch bei diesem Text um ein digitales Medium, und die unter Punkt 5 geübte Kritik möchte ich bitten, vorbehaltlos auch auf diesen Text anzuwenden. Die sachliche Nennung von Daten, Namen und Ereignissen evoziert Tatsächlichkeit – und vielleicht wirkt es in diesem Fall besonders überzeugend, dass die definitive Schuldzuweisung an Russland mit Klammern als Mutmaßung gekennzeichnet wurde. Aber selbst diese vergleichbar schlichte, redaktionelle Maßnahme verbirgt einiges an Subtext: Bin ich – der Autor – es, der die russische Verantwortung mutmaßt, jedoch selbstkritischerweise diese Mutmaßung mit Klammern infrage bzw. zur Diskussion stellt, oder ist es die Mutmaßung einer anderen Quelle, deren Vertrauenswürdigkeit wiederum ich infrage stellen und sie (also die fremde Mutmaßung) als solche kennzeichnen möchte?
Wenn man beim Lesen nun solche Feinheiten abwägt, müsste man sich selbst eigentlich auch über die Vertrauenswürdigkeit aller anderen in diesem Satz als »Fakten« vorgestellten Inhalte noch einmal Rechenschaft ablegen. Immerhin behandelt dieser Satz keine Banalitäten – es geht um einen Anschlag, der Menschen das Leben gekostet hat. (Ja, es sind Menschen gestorben! Diese Tatsache ist uns mit jeder Zeile, die wir hier schreiben oder lesen, schmerzlich bewusst.) Es ist angesichts dieser Thematik also durchaus angemessen, die von mir dargestellten Tatsachen nicht gutgläubig als solche hinzunehmen und ich lade dringend zur eigenständigen Recherche ein!
Gleichzeitig erweckt vielleicht gerade meine Strategie, den Wahrheitsgehalt meines eigenen Essays radikal und mit großem Aufwand infrage zu stellen, und darüber hinaus großmütig zum eigenen Faktencheck einzuladen, Ihr Vertrauen, und Sie denken sich: »Wer derart ehrlich zugibt, er könne die Glaubwürdigkeit seines eigenen Textes nicht beweisen, wird sich doch keine Patzer erlauben, und alles Geschriebene selbst bereits dreimal überprüft haben!« Und unversehens rudern wir wieder hilflos im meterdicken Zuckerguss: Je nachdrücklicher ich (als Urheber) Ihnen empfehle, der medial vermittelten ›Weltsicht‹ dieses Textes kritisch zu begegnen, umso mehr sind Sie geneigt, mir als selbstkritischer Quelle zu vertrauen und nicht nur alles wörtlich zu glauben, sondern auch die untergründige Ethik dieses Textes zu übernehmen.
Auch wenn ich Sie nicht glaubhaft davon überzeugen kann, steht für Sie am Ende hoffentlich die Erkenntnis, dass ein Medium niemals überzeugend eine ›Weltsicht‹ vermitteln kann.
5 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2010, S. 61.
6 Und »Reproduzent« meint hier nicht nur Personen, sondern auch Konzerne, Staaten &c.
7 Ein kurzer, exemplarischer Exkurs: Der Schriftsteller, Regisseur und Journalist Pier Paolo Pasolini diagnostizierte bereits vor fünfzig Jahren, welchen Einfluss eine vermehrt massenmediale Wahrnehmung auf die Bevölkerung des postfaschistischen Italiens ausübte:
8 Pasolini, Pier Paolo: Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1978, S. 42.
9 ›unversehrt‹ im doppelten Sinne
Der in den Dreißiger Jahren verfasste sechsbändige Roman ›Nord-Nordwest‹1 des argentinisches Schriftstellers Ramón Bonavena ist ein Meilenstein des Deskriptionismus und war seinerzeit ein radikaler Bruch mit der dagewesenen lateinamerikanischen Literatur. Bonavena erkannte frühzeitig die Grenzen des realistischen und des psychologischen Romans und überwandt sie mit seinem Werk, indem er die Ansprüche an eine realistische Wiedergabe des Geschilderten zurücksetzte und zugleich ins Unbegreifliche steigerte. Er gab es auf, mit sprachlichen Mitteln Orte, Personen und Geschehnisse zu reproduzieren. Stattdessen verschrieb Bonavena sich in ›Nord-Nordwest‹ der detailgenauen Wiedergabe kleinster unbelebter Gegenstände. Mit scharfem Blick erstellte er minutiöse Betrachtungen kleiner Objekt-Tableaus, die in seiner klaren Sprache zur Zeitlosigkeit gerannen – man mag fast sagen, zur Ewigkeit, wie Bonavena es selbst ausdrückte. Aberdutzende Seiten verwendete er auf die Beschreibung beispielsweise eines Aschenbechers aus Kupfer, eines Bleistiftes, einer schwarzen Schachfigur, oder eines Hammerstieles – und geizte nicht mit exakten Maßangaben, Informationen zur Materialbeschaffenheit, zum vermutetem Alter, zum ursprünglichen Einzelhandelskaufpreis, mit Hintergrundinformationen zur Liquidität des Herstellers, mit Schilderungen der Patina oder der Lichtreflexion und des Schattenwurfs je nach wechselndem Sonnenstand. Bezeichnenderweise haben alle Gegenstände die minutiöse Analyse Bonavenas nicht überlebt. Nachdem sie unter seiner Feder in Sprache aufgegangen waren, hielt er anfangs zwar noch alle Tableaus fotografisch fest, bevor er die beschriebenen Objekte zerstörte. Aber seiner Obsession widerstanden auch diese Fotografien nicht lange:
Was sich durch diese Opfer realisiert ist der Eintritt der geschilderten Objekte in die Unvergänglichkeit! Alle materiellen Schranken transzendierend sind sie unsterbliche literarische Subjekte geworden.
Bonavena widmete dieser literarischen Transsubstantiation alltäglicher Gegenstände die (941 Seiten umfassenden) ersten fünf Bänden von ›Nord-Nordwest‹ – in den letzten Jahren seines Lebens verlagerte sich sein Interesse jedoch auf die bildende Kunst. Hatte er zuvor »begrenzte Ausschnitte«3 der ihn umgebenden Welt eingefangen, begann er nun, Werke der bildenden Kunst zu versprachlichen. Aber auch dies tat er selbstverständlich ausschnittsweise! Aus Bildern von u.a. José E. Tafas, O. J. Manntoifel, Hotchkis de Estephano, A. Piranesi4/5 oder A. Garay6 wählte er winzige Ausschnitte von nur wenigen Quadratzoll Fläche, aus deren bloßer Beschreibung eigentlich keinerlei Informationen über das restliche Bild, bzw. den übrigen Teil der Zeichnungen und Skizzen zu gewinnen ist. Die Schilderungen dieser Bildausschnitte füllen den posthum erschienenen sechsten Band von ›Nord-Nordwest‹ – und sind mutmaßlich das einzig überlieferte Zeugnis dieser Bilder und Zeichnungen, denn der Verbleib der Originale ist ungeklärt.
Aus den 14 in ›Nord-Nordwest 6‹ enthaltenen Beschreibungen sticht die drastische Schilderung eines einzelnen Quadratzolls aus dem Bild »Paisaje en Corrientes« von José E. Tafas besonders hervor:
In der Annahme, dass Bonavena das Originalbild vermutlich zerstört hat, schuf ich das Kontrafaktum »Paisaje en Corrientes (Homenaje a Bonavena y Tafas)«. Es stellt eine der unendlich vielen möglichen Formen dar, in denen der ›echte‹ Tafas auf uns überkommen wäre, hätte Bonavena ihn nicht seinem totalitaristischen literarischen Anspruch unterworfen. So bleibt uns nur die Mutmaßung, wie (außer dem beschriebenen »Winkel«, den ich exakt an Ort und Stelle reproduziert habe) die restlichen Bildausschnitte ausgesehen haben mögen. Mein Werk macht dafür 210–1 Vorschläge.
2 In einem Interview mit H. Domecq in der Última Hora, 27. Mai 1936, Palma, S. 31.
3 ebd.
4 Piranesi hatte sich in Italien als Architekt einen Namen gemacht. Weiß der Himmel, auf welchen Wegen Bonavena an einen Bauplan für dessen »Chaotikum« in Rom gekommen sein mag.
5 Die Schriftstellerin Susanna Mary Clarke veröffentlichte 2020 den mit dem Woman’s Prize for Fiction ausgezeichneten Roman »Piranesi«, der mutmaßlich auf dessen architektonische Experimente anspielt.
6 Garay war eigentlich bekannt als Bildhauer, aber die Schilderung Bonavenas bezieht sich anscheinend auf eine Skizze Garays zu einer geplanten und mutmaßlich niemals ausgeführten Ausstellung auf einem öffentlichen Platz in Buenos Aires.
Wenn es stimmt, dass »der größte Teil unserer Weltbeziehungen bildschirmvermittelt und
[…] unser Weltverhältnis als ganzes bilschirm-symbolvermittelt geprägt ist«,1 dann steckt
die Malerei (mal wieder) in der Krise. Welche Chance hat ein immobiles Werk aus Holz, Leinwand,
Pigment und Bindemittel denn ernsthaft gegen eine mobiles image, das potenziell in einem
Augenblick auf den Bildschirmen von momentan etwa fünfeinhalb Milliarden internet usern
erscheinen kann?
Paul Valéry hat 1934 vorhergesagt: »Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf
einen unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden
wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast
ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.«2 Nicht nur die Malerei, auch die
Musik ist betroffen (und im weiteren Sinne ohnehin alle Künste, die auf optischen und
akustischen Nachrichten beruhen) von den Möglichkeiten digitaler Wahrnehmungsangebote.
Rosa spricht von »Symbolströmen« – und in der Tat ist der stream heutzutage viel mehr als ein
elektronischer Kreislauf, den die user manuell an- und abschalten können, wie Valéry es sich
vorstellte. Der stream ist ein niemals stillstehender Strom, in den man eintaucht. Das Medium,
das dort strömt, ist im weiteren Sinne content, im Falle der social media ist es eine Flut von
anderen usern.
Ich glaube, dass Malen und Musizieren heutzutage nur noch möglich ist, wenn die veränderten
Bedingungen responsiv aufgenommen werden, wenn der analoge Bildträger sich nicht vom digitalen
image abgrenzt, sondern sich in die Lage versetzt, auch jenen usern zu antworten, die ihre
Beachtung nur noch den strömenden Nachrichten auf Bildschirmen schenken.
2 Paul Valéry, Pièces sur l'art, Paris: Gallimard 1934., S. 105., zitiert nach: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 72020., S. 11.